Heimat, segne unsre Wiederkehr!
Segne unsre blutgetränkten Acker!
Und den Mauern, die nun schwarz und leer,
schenk vom Flammentode den Erwecker, der dem Dach die 
Richtfestkrone bringt,
Hausrat hobelt und die Wände weißt,
dass, wenn einst der Friede niedersinkt,
uns Dein Mutterblick willkommen heißt!
Gebt uns wieder Haus und Hof und Herd!
Schlagt uns Balken, brennt uns Steine!
Wir begehren nur das eine:
Heimat! 
 

Aus dem Gedicht „An die Heimat“, das Hermann Sudermann nach dem Russeneinfall im Ersten Weltkrieg schrieb.
 
 
 

Es ist im Juni 1944. Hellblau spannt sich der Himmel über die Felder Ostpreußens. Er spiegelt sich in den vielen Seen der Heimat und gibt ihren dunkelblauen Wäldern einen geheimnisvollen Glanz. Fleißig und doch still gehen die Menschen ihrem Tagwerk nach. Sie treffen Vorbereitungen, um die trotz des Krieges reich gesegneten Felder abzuernten, noch nicht ahnend, dass es die letzte Ernte in der alten, lieben Heimat sein soll.

Über diese ruhige Welt der Arbeit senkt sich langsam, doch unaufhaltsam ein dunkler Schatten; die Russen bedrohen die Grenzen. Noch bleibt alles ruhig; denn niemand denkt an einen Durchbruch der Russen. Keiner will glauben, dass diese schöne Zeit zu Ende gehen soll, dass der Erntesegen gewaltsam vernichtet werden soll. So geht man weiter seines Wegs, scheinbar nur unbekümmert; doch das Herz zieht sich schmerzlich zusammen, wenn Wehrmachtsberichte und Meldungen an den Vormarsch der Russen erinnern.

Im Juni werden alle arbeitsfähigen Männer zum Schanzen eingezogen. Auch mein Vater wird dazu berufen. Ein weit schwererer Schlag für uns ist, dass mein Vater im September zum Volkssturm eingezogen wird. Jetzt muss meine Mutter im Falle einer Flucht mit uns Kindern den schweren Weg alleine antreten. Aber vielleicht kommt es nicht soweit. 

Dann, Anfang September, wird auch die leiseste Hoffnung auf ein gutes Ende grausam zerstört; ein unübersehbarer Zug flüchtender Menschen aus den Grenzgebieten schiebt sich langsam durch die Straßen Angerburgs. 

Müde trotten die Pferde vor den schweren Planwagen, die mit Hausrat und Futtermitteln beladen sind. "Treck" nennen die Leute diesen Zug des Leides.  

Das Donnern von der Front wird immer lauter, der Feind rückt immer näher. Jetzt bleibt kein Ausweg mehr; wir müssen fliehen. Die Unruhe wird von Tag zu Tag beängstigender. Am 23. Oktober werden wir nach Heilsberg evakuiert.

Aber auch hier finden wir keine Ruhe. Wir müssen weiter.

Wir fliehen von Heilsberg nach Königsberg

Am 22. Januar treffen wir die letzten Vorbereitungen zur Flucht. Es ist Montag. Der Vormittag ist kalt, und es schneit. Auf dem Fuhrwerk des Bauern, bei dem wir wohnten, fahren wir zum Bahnhof nach Wormditt.

Die Bahnlinie ist zerstört, so müssen wir die Strecke mit dem Wagen zurücklegen. Unser Plan ist, über Elbing nach Westen zu ziehen.

Als wir den Bahnhof in Wormditt erreichen, ist der Bahnsteig bereits mit Menschen überfüllt. Gewaltsam versuchen die Menschen, in den Zug zu kommen. Nach langem Bemühen gelingt es uns Kindern, in den rettenden Bahnwagen zu steigen. Unsere Mutter hilft einer älteren Dame, die ihr Gepäck auf dem Bahnsteig stehen hat. In diesem Augenblick setzt sich der Zug in Bewegung, und meiner Mutter gelingt es nicht mehr, in den Zug zu springen. Der Zug fährt immer schneller, meine Mutter bleibt auf dem Bahnsteig zurück. Mein Bruder Martin, der das bemerkt hat, greift verzweifelt nach der Notbremse. Eine große Aufregung entsteht im Zug. Bahnbeamte eilen durch die Waggons und haben bald die gezogene Bremse entdeckt. Die Beamten erfahren der Vorfall und machen sich schimpfend daran, die Notbremse zu lösen. Inzwischen hat meine Mutter den Zug eingeholt, und nach einer Viertelstunde fahren wir gemeinsam ab.

Der Zug rollt einige Stunden nach Westen, bis er, es muss kurz vor Elbing gewesen sein, stehen bleibt. 

Als der Zug nach kurzer Zeit wieder anfährt, bemerken wir, dass wir rückwärts fahren. Wir hören, dass der Weg über Elbing vom Russen abgeschnitten ist. Jetzt fahren wir zurück nach Königsberg. Doch auch diese Fahrt wird unterbrochen, da wir keinen Marschbefehl haben. So sitzen wir zwei Tage im Güterwagen - frieren und warten. Dann erst ist der Weg frei.

Schreckenstage in Königsberg

Als wir in Königsberg ankommen, ist die Stadt schon überfüllt; denn niemand darf ohne eine besondere Genehmigung heraus. In einem Haus an der Hauptstrasse finden wir Unterkunft. Nachts legen wir uns völlig angekleidet ins Bett; es wird mit Angriffen der Russen gerechnet. In der zweiten Nacht erleben wir einen der großen Tiefangriffe russischer Flieger.

Wir sitzen im Luftschutzkeller und warten frierend auf den Angriff. Aus einem schmalen Luftschacht des Bunkers können  wir in die dunkle Nacht hinaufspähen. Schon deutlich sind die feindlichen Geschwader zu hören. Plötzlich irren Lichtstrahlen geisterhaft am Himmel umher, bleiben an  Wolkenfetzen hängen und wandern dann unruhig am Firmament entlang. Dann brüllt es auch schon zum ersten Male auf. Ein heller Feuerschein erleuchtet grell die schwarzen Häuser, verwandelt sich in ein hässliches Rot und geht dann in dem Wirbel der Explosionen verloren. In ununterbrochener Reihenfolge prasseln die Bomben herab, erleuchten Explosionen den Himmel. - Erst nach mehreren Stunden haben die feindlichen Flugzeuge ihre schreckliche Fracht abgeworfen.

Auch in den nächsten Tagen greifen starke Fliegerverbände die Stadt an. Aber wir können Königsberg nicht verlassen; wir dürfen nicht heraus. Am dritten Tage haben russische Panzer den Verteidigungsgürtel durchbrochen und fahren durch die Straßen. Wir sitzen im Keller und hören die Worte des Gauleiters Koch, der uns über Lautsprecher zuruft: "Ruhe bewahren!" Der Himmel ist fast immer blutrot. Viele Häuser sind zerstört, viele Tote liegen in den Straßen.

Endlich, am vierten Tage, erhalten wir durch einen glücklichen Zufall die Genehmigung, Königsberg zu verlassen. Jetzt müssen wir versuchen, zum Nordbahnhof zu kommen. Da die Straßenbahnen nicht mehr fahren, müssen wir diese Strecke zu Fuß schaffen. Dieser Weg zum Bahnhof ist ein Weg des Schreckens. An beiden Seiten der Straße liegen unzählige Tote, die von feindlichen Maschinengewehren erschossen wurden. Immer wieder werden wir von Tieffliegern angegriffen, die mit ihren Bordwaffen ganze Reihen wehrloser Flüchtlinge niedermähen. Die Deckung der Häuser ausnutzend, eilen wir vorwärts.

Unter dauerndem Beschuss kommen wir auf eine Brücke. Auch hier liegen viele Tote. Mitten auf dem Fußsteig erblicken wir einen toten Mann. Ein Soldat beugt sich zu ihm herab und versucht, ihm die neuen Lederstiefel auszuziehen. Erschüttert wenden wir uns ab und eilen weiter.

Erschöpft erreichen wir den Bahnhof. Hier finden wir noch Platz in einem überfüllten Zug. Der dauernden Angriffe wegen kann der Zug noch nicht abfahren. So sitzen wir im Gedränge und warten. Wieder tönt die Sirene, deren unheimlicher Klang uns durch Mark und Bein geht. Schon wieder ein Angriff der Russen! Wir müssen den Zug verlassen; aber das ist auf dem gewöhnlichen Wege unmöglich. Sämtliche Gänge und Türen des Zuges sind verstopft. Es droht eine Panik auszubrechen. Kurzerhand verlassen wir den Bahnwagen direkt durch das zertrümmerte Fenster. Dabei dringt meiner Mutter ein scharfer Glassplitter des Fensters durch den Lederhandschuh in die Handfläche. Nicht auf die blutende Hand achtend, stürzt meine Mutter mit uns zum Luftschutzbunker. Nach dem Alarm dürfen wir wieder in den Zug. Noch fünfmal müssen wir den Zug auf die gleiche Weise verlassen. - Erst am nächsten Tag fährt der Zug los. Endlich dürfen wir Königsberg verlassen. Wir sind glücklich darüber. Vielleicht werden schon in einigen Tagen russische Truppen durch die Straßen dieser stolzen Stadt marschieren.

Unser Zug führt Lazarettwagen mit, die Verwundete von der Front bringen. - In schneller Fahrt entfernen wir uns von Königsberg. Doch die Fahrt währt nicht lange.

Ein Zugunglück im Walde von Metgethen

Es ist dicht vor Metgethen. Plötzlich hält der Zug mitten auf der Strecke in einem Wald. Was ist geschehen? Die Strecke ist wegen eines entgegenkommenden Zuges gesperrt. Der Zug muss also hier stehen bleiben. Aber hier mitten im Wald? In dem dichten Gehölz können Feinde sein. Bald erweist sich unsere Befürchtung als wahr. Wir werden beschossen. Es müssen Fallschirmjäger sein, die sich im Wald befinden. Laut dringt das Knattern der Maschinengewehre zu uns herüber. Mit hässlichem Geräusch klatschen die Kugeln in die Wand des Bahnwagens. Es wird uns klar, dass wir hier so schnell wie möglich weg müssen. 

Da erhebt sich vor dem Zug lautes Stimmengewirr. Wir sehen einen jungen Soldaten in der Uniform eines Sanitätsoffiziers mit schnellen Schritten auf den Lokführer zugehen. Er fordert ihn auf, sofort mit dem Zug aus dem Wald zu fahren. Der Zugführer weigert sich, da die Strecke gesperrt ist. Noch einmal versucht der Offizier, den Mann zur Weiterfahrt zu bewegen. Er erinnert ihn an die verwundeten Soldaten in den Sanitätswagen. Doch der Zugführer beruft sich auf seine Vorschriften. Das Feuer der Russen ist inzwischen immer stärker geworden. Entschlossen zieht der Offizier die Pistole und zwingt den Lokführer mit vorgehaltener Waffe zur Weiterfahrt. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung.

Wir sind etwa zehn Minuten gefahren, als ein gewaltiger Stoß den Zug zurückwirft und ein ohrenbetäubendes Krachen herüberschallt. Schwere Koffer fallen aus den Gepäcknetzen auf uns herab. Die Menschen schreien entsetzt auf. Sind wir auf eine Miene gefahren? Hat uns eine Bombe getroffen? Meine Mutter ruft uns Kinder. Uns ist nichts passiert. Nachdem wir uns aus dem Zug herausgearbeitet haben, sehen wir, dass unser Zug auf den entgegenkommenden Munitionszug gefahren ist. Die Lokomotiven und die ersten Wagen sind umgeworfen. Sie bieten ein trauriges Bild.

Es ist etwa 1:30 Uhr in der Nacht. Jetzt müssen wir zu Fuß weiter.

Nach dem Zugunglück müssen wir zu Fuß den nächsten Bahnhof  erreichen

Unser Gepäck lassen wir bis auf einen Koffer im Zug liegen. An den Griff des Koffers binden wir einen Riemen und ziehen ihn im Schnee wie einen Schlitten hinter uns her. Die Gräben zu beiden Seiten der Straße sind mit Hausgegenständen, Betten und Kleidern gefüllt. Nur das Allernötigste haben die Menschen behalten.

So ziehen wir zusammen mit Hunderten von Flüchtlingen nach Westen. Oft wollen wir auch den letzten Koffer liegen lassen; aber er ist unsere einzige Habe.

Vor uns wird der Himmel plötzlich tiefrot. Die weiße chneelandschaft, die hell erleuchtet ist, bietet unseren Augen ein schaurig - schönes Bild. Helle Flammenbündel zischen zum Himmel und erhellen die Umgebung. Was dort brennt, das ist der Flugplatz von Seerappen. Viele Flugzeuge fallen dort den züngelnden Flammen zum Opfer. Durch das Rauschen der Flammen dringen dumpf die Detonationen berstender Benzinkanister. Über die leere Bahnstrecke flattern halbverkohlte Bücher und Akten, zieht schwarzer Qualm nach Westen.

Und weiter schleppen wir uns voran. Im Osten dämmert es schon. Unser Ziel haben wir immer noch nicht erreicht. Viele alte Leute bleiben erschöpft zurück, viele Kinder rufen weinend nach ihren Müttern.

So vergeht Stunde um Stunde. Lange halten wir diesen Gewaltmarsch nicht mehr aus. Der kalte Wind pfeift uns in das Gesicht und macht das Atmen schwer.

Erst gegen Mittag erreichen wir eine kleine Bahnstation. In dem Wartesaal können wir uns etwas ausruhen; aber immer mehr Menschen strömen in den kleinen Raum, bis auch der letzte Platz besetzt ist. Hier sind wir wenigstens vor der beißenden Kälte sicher, doch lange dürfen wir uns nicht 
aufhalten; denn der Feind sitzt uns im Rücken und treibt uns unaufhaltsam vor sich her.

Ein Überfall der Russen

Durch die Glastür des Wartesaals können wir auf den Bahnsteig blicken. In einiger Entfernung sehen wir Soldaten in deutschen Uniformen, die mit Äxten die Drähte und Weichen der Bahnlinie zerstören. Können das Deutsche tun? Nach kurzer Zeit tönt das Geräusch von Schüssen zu uns herein. Wir entdecken hinter den Büschen Soldaten, die das Feuer auf die Bahnstation eröffnen. Auch sie tragen deutsche Uniformen.

Eine wilde Aufregung entsteht in dem überfüllten Wartesaal. Wo sind die Deutschen, wo die Russen? Alle Soldaten haben die gleichen Uniformen an. Jetzt erscheinen die Schützen schon auf dem Bahnsteig und legen auf das Bahnhofsgebäude an. Meine Mutter steht mit uns Kindern direkt im Schussfeld. Verzweifelt versuchen wir, von der Tür wegzukommen; aber der Saal ist zu voll. Schon zersplittern die ersten Kugeln die Fenster. Ein junger Soldat, der hinter uns steht, schiebt uns beiseite, reißt das Gewehr an die Backe und feuert auf die Soldaten auf dem Bahnsteig. Einer sackt zusammen; die anderen gehen in Deckung. Schnell erklärt uns der Soldat, dass das schon Russen seien, die zur Tarnung deutsche Uniformen angezogen hätten. Dann eilt er nach draußen, um mit seinen Kameraden gegen die Russen zu kämpfen.

Nach kurzem Gefecht sind die Feinde überwältigt. Es war ein kleiner Trupp, der mit Fallschirmen abgesprungen war. Dann kommen Soldaten in den Saal. Mit Taschenlampen leuchten sie in die Gesichter der Flüchtlinge und holen einige Menschen aus dem Saal. Es sind Russen, die sich heimlich unter die Flüchtlinge gemischt haben. Mehrere Gewehrsalven lassen uns ihr Schicksal erraten.

In langen Ketten ziehen die Soldaten durch das Gelände und durchkämmen den nahen Wald. Sie suchen nach Russen. Uns sagt man, dass wir jetzt weiterlaufen könnten, da keine Feinde mehr in der Gegend seien.

Der Weg ist also frei. Wir müssen jetzt weiter, - weiter nach Westen.

Ein Panzerzug bringt uns einige Bahnstationen weiter; mit  einem Zug fahren wir nach Pillau

Den ganzen Tag hasten wir vorwärts. Gegen Abend erreichen wir ein kleines Bahnwärterhäuschen, dessen Bewohner gerade geflohen sind. Wir sehen in den Zimmern noch alles so, als hätten die Leute es eben erst verlassen. Die Betten sind aufgewühlt, und auf den Tischen steht noch das Frühstücksgeschirr. Ein Soldat, der in dem Haus einquartiert ist, bricht die Speisekammer auf und bewirtet uns, so gut es geht. Es sagt uns, dass im Laufe der nächsten Stunden ein Panzerzug von Pillau heraufkommen werde, um die Strecke nach Königsberg zu säubern. Auf der Rückfahrt werde er Familien mit kleinen Kindern und alten Leuten mitnehmen.

Und wirklich. Gegen Morgen rollt der Panzerzug in Richtung Königsberg vorbei. Nach einigen Stunden kommt er wieder zurück und hält vor dem Haus. Er ist ein haushoher Gigant und läuft auf den Bahnschienen. Die Soldaten heben uns in die Luke hinein und sind sehr freundlich. Wir erhalten 
Schokolade und heiße Getränke und vergessen für Augenblicke die Schrecken der letzten Tage. Dann fahren wir in Richtung Pillau ab. Doch weit bringt er uns nicht. Nach drei Stationen müssen wir aussteigen und zu Fuß zum nächsten Bahnhof laufen.

Hier stehen mehrere Güterzüge mit offenen Waggons. Wir steigen auf einen der Güterwagen. Starkes Schneegestöber weht über den Bahnhof. Nach langem Warten sind wir Kinder fast völlig eingeschneit. Doch der Zug fährt nicht los. Dann steigen wir auf den Waggon eines anderen Zuges. Auf diesem Wagen steht ein Lastauto. Wir setzen uns in das Führerhaus und warten auf die Abfahrt. - Erst am Abend setzt sich der Zug in Bewegung und fährt nach Pillau ab.

Bald ist unser Ziel erreicht.

Wir steigen aus und eilen sofort zum Hafen. Wir hoffen bald ein Schiff zu erreichen.

Das Warten auf die Schiffe am Hafen von Pillau

Wir biegen auf die Straße ein, die zum Hafen führt. Kaum wagen wir, auf die Seiten zu blicken; denn was sich hier den Augen bietet, das ist schrecklich: mit Bündeln beladene Handwagen, von schon Zusammenbrechenden geschoben, schreiende Kinder und weinende Mütter, überall liegen Tote. Das Furchtbare ist, das wir auch viele Kinder unter ihnen sehen. Manchmal liegen die Toten in grauenhaften Knäueln an der Straßenseite. Riesige Bombentrichter, die die Straßen versperren, sind umsäumt von grausam verstümmelten Menschen. Wir eilen weiter, an Reihen von Menschen vorbei, die vielleicht erst vor wenigen Stunden von feindlichen Tieffliegern niedergemäht wurden. Erschüttert wanken wir in dem Strom der Menschen vorwärts zum Hafen.

Auf dem weiten Hafengelände wogt bereits eine schwarze Menschenmenge. Sie alle warten auf Schiffe. Wir stellen uns dazu und warten.

War der bisherige Fluchtweg von den Behörden und der eigenen Willenskraft abhängig, ist nun dem menschlichen Willen eine Grenze gesetzt; denn hier am Kai beginnt das Schicksal mitzusprechen. Hier am Meer lassen wir die Heimat zurück. Wo wird uns eine neue Heimat erwarten?

Wir haben uns mitten in die brodelnde Menschenmasse hineingearbeitet. Der Boden ist mit Oberbetten, Kleidern und Hausrat jeder Art bedeckt. Von einer Familie neben uns hören wir, dass die "Wilhelm Gustloff" gerade ausgelaufen sei. Wären wir doch auf das Schiff gekommen! Wie schade! Aber ist es wirklich schade?

Stunden später wird eine Meldung bekannt, die wie eine Bombe einschlägt. Die "Wilhelm Gustloff" ist auf der Höhe von Stolp gesunken! Drei Torpedos haben das Schiff getroffen, auf dem sich sechstausend Menschen befanden. Nur tausend Flüchtlinge sind von Torpedobooten gerettet worden.

Diese Nachricht ist ein schwerer Schlag für uns, die wir hier am Ufer auf ein nächstes Schiff warten. Stundenlang stehen wir schon am Kai und schauen auf das rollende Meer hinaus. Von der Front donnert es immer deutlicher herüber, wächst das Feuer zu einem pausenlosen Orkan an.

Dann taucht ein Schiff am Horizont auf. Wir es bei uns halten? Bange Minuten des Wartens. Doch das Schiff legt einige hundert Meter von uns entfernt an. In den nächsten Stunden landen wieder ein paar kleinere Schiffe; aber an unserer Stelle lädt man keinen ein.

So vergeht der erste Tag, verrinnt die erste Nacht. Auch am nächsten Tag warten wir vergebens. Unsere Nahrungsvorräte sind bald erschöpft. Auch können wir nichts mehr kaufen, da die Bewohner Pillaus schon geflohen sind.

Die zweite Nacht senkt sich herab, der nächste Tag beginnt. Wir warten. Am dritten Tag legt ein gewaltiger Schiffsriese im Hafen an, der "Deutsche". Aber er hat schon Flüchtlinge an Bord. Nur wenige haben das Glück, auf das Schiff zu gelangen. Denn verschwindet auch er wieder am Horizont.

Schon vier Tage haben wir hier am Ufer verbracht. Wir sind inzwischen dicht an die Kaimauer herangekommen. Vor unseren Füßen fällt die Mauer jäh ab und wird in der Tiefe von dem schmutzigen Meerwasser bespült. Kein Gitter, kein Geländer schützt uns vor der gähnenden Tiefe des Hafens. Hinter uns drängt verzweifelt die Menschenmasse, die nicht weiß, es einfach nicht wissen will, dass wir hier in Lebensgefahr schweben.

Endlich, am fünften Tage, legt vor uns ein größerer Frachter an. Mit der Kraft der Verzweiflung drängt die Menge hinter uns nach. Meine Schwester wird von der drängenden Woge nach vorne gedrückt und rutscht über die Kaimauer. Im letzten Moment kann meine Mutter sie noch fassen und zurückziehen.

Inzwischen hat die Besatzung des Frachters den Laufsteg an Land geschoben. Wir haben das Glück, über den schmalen Steg auf das Schiff zu gelangen. Erschöpft lassen wir uns in das Stroh fallen, das auf dem Boden des Laderaumes liegt. Das haben wir geschafft!

Als das Schiff den Hafen verlässt, sehen wir eine wogende Menge am Kai zurückbleiben. Aber es ist auch die Heimat, die dort zurückbleibt. Einen letzten Blick werfen wir auf den Heimatstrand. Wann werden wir ihn wiedersehen. Mit diesem Gedanken schlafen wir übermüdet ein.

Ein Frachter bringt uns nach Godenhaven, wo wir einige Tage warten müssen

Das Schiff bringt uns an der Halbinsel Hela vorbei nach Godenhaven. Hier müssen wir das Schiff verlassen. In dem riesigen Marinearsenal können wir uns einige Tage erholen. Der Frachter aber fährt zurück nach Pillau, um neue Flüchtlinge zu retten.

Nach der Ruhepause in dem Arsenal begeben wir uns wieder zum Hafen. Auch hier sehen wir wieder die schwarze Menschenmasse, die sehnsüchtig auf Schiffe wartet. Wir stellen uns etwa 20 Meter vom Kai entfernt in die brodelnde Menschenmenge. Wieder legen Schiffe an; aber immer nur an anderen Plätzen.

Wieder stehen wir zwei Tage in der Kälte. Dann legt endlich ein Schiff vor uns an. "Kastor", leuchtet es hell auf dem schwarzen Bug des Frachtschiffes. Der Kapitän, ein junger, kräftiger Mann, setzt das Sprachrohr an den Mund und ruft über die menge, das nur elternlose Kinder, alte Leute und Familien mit kleinen Kindern auf das Schiff kommen. Ein vielstimmiges Geschrei erhebt sich; denn viele wollen sich bemerkbar machen. Auch wir versuchen verzweifelt, uns zu melden.

Zuerst werden viele Kinder auf das Schiff gebracht. Sie alle haben in diesem Gewoge ihre Eltern verloren. Dann kommen die Familien mit kleinen Kindern. Wieder beginnt die Menge zu schreien. Mein dreizehnjähriger Bruder, der das nicht mehr mit ansehen kann, stößt plötzlich markerschütternde Schreie aus. Er muss von den Strapazen der letzten Tage einen Anfall bekommen haben. Und jetzt, jetzt sehen wir, dass es auch in der größten Not etwas Glück gibt. Der junge Kapitän blickt plötzlich zu uns herüber, springt, ohne zu zögern, in die wogende Menge hinein und bahnt sich mit kräftigen Stößen einen Weg zu uns. Freundlich nimmt er meiner Mutter den schweren Koffer aus der Hand und drängt sich mit uns durch die Menge zurück zum Schiff. Wir wissen nicht, wie wir dem Kapitän danken sollen.

Mit dem Schiff "Kastor" fahren wir nach Brunsbüttel

Zusammen mit mehreren Familien werden wir in eine kleine Kabine gewiesen. Hier ist es so eng, dass wir unsere Beine nicht ausstrecken können.

Mehrere Stunden dauert das Übernehmen der Flüchtlinge. Dann fahren wir in die offene See hinaus. Wir werden von acht weiteren Schiffen begleitet, die zum Schutz einen Geleitzug bilden. Die Schiffe fahren durch Strecken, die durch Bojen gekennzeichnet sind. Diese Wasserstrassen sind von Minen gesäubert. Wir sind von den Anstrengungen der letzten Tage sehr erschöpft. So schlafen wir lange aber nicht sehr ruhig.

Der zweite Tag unserer Fahrt beginnt mit einem Unwetter. Ein starker Sturm peitscht das schäumende Meerwasser klatschend gegen die Schiffswand. Gischtsprühendes Wasser spritzt an die Bullaugen. Beim Anblick des aufgewühlten Meeres und der schaukelnden Begleitschiffe überkommt uns ein fröstelnder Schauer. - Der Sturm pfeift mit unverminderter Kraft über das gischtbesprühte Deck. Wie viele der Flüchtlinge so liegen auch wir nach kurzer Zeit seekrank in der Kabine.

Erst am nächsten Morgen legt sich der Sturm. Unsere Fahrt geht langsam vorwärts, da oft wegen Minengefahr gestoppt werden muss. "Werden wir von den Minen verschont bleiben? Wird man uns aus der Luft angreifen?" sind die bangen Fragen, die der Kapitän oft hören muss.

Schon am Nachmittag fährt eines der Begleitschiffe auf eine Mine. Eine berstende Explosion reißt ein Loch in den Bug des Schiffes. Sofort stoppen die anderen Schiffe und treffen Rettungsmaßnahmen. Das getroffene Schiff legt sich schräg auf eine Seite und treibt hilflos weiter, weiter nach Westen. Die Menschen an Bord des Schiffes werden gerettet und auf die übrigen Schiffe verteilt. Bald werden die Anker gelichtet, und die schiffe setzen sich wieder in Bewegung. Wir stehen an der Reling und beobachten das Sinken des getroffenen Schiffes. Im roten Glanz der untergehenden Sonne sehen wir nur noch die Masten schwankend aus dem Wasser ragen. Mahnend wehen ihre Wimpel im Abendwind.

Schon viele Tage sind wir jetzt auf dem Wasser. Das Essen, das verteilt wird, wird immer kärglicher; die Verpflegung geht zu Ende. Der Kapitän funkt zur Westküste und bittet um Nahrungsmittel. Er erfährt, dass ihm in den nächsten Tagen ein Schiff mit Verpflegung entgegenkommen soll. Wir warten zwei tage. Dann kommt es endlich. In großen Waschkörben werden belegte Brötchen und Brote auf das Schiff gereicht. Die NSV hat diese Verpflegung geschickt.

Von Tag zu Tag nähern wir uns Kiel immer mehr; von Tag zu Tag vermindert sich das Angstgefühl. Dann ist Kiel erreicht, und wir fahren in den Nordostseekanal. Die Wiesen zu beiden Seiten der Wasserstraße werden schon grün. Die warme Sonne scheint auf die stille Landschaft, scheint auf friedliche Felder und geborgene Dörfer. Dies wird nun unsere neue Heimat sein. Und jetzt verdrängt ein unbeschreiblich schönes Gefühl der Sicherheit die schrecklichen Erinnerungen der letzten Wochen. Bald ist die Schleuse von Brunsbüttel erreicht. 

Das Schiff macht an der Mole fest, und wir verlassen nach langer, beängstigender Fahrt das Schiff.

Es ist der fünfzehnte Februar. Vor fünfundzwanzig Tagen verließen wir unsere Heimatstadt Angerburg.

In Kronprinzenkoog werden wir bei einem Bauern einquartiert

Wir werden freundlich empfangen und in Gruppen geordnet. Auf Lastwagen, die schon bereitstehen, werden die Flüchtlinge in die Dörfer gefahren. Das Auto, auf das wir gestiegen sind, bringt uns zunächst nach Marne. Nach kurzem Aufenthalt fahren wir weiter nach Kronprinzenkoog-Mitte. Hier stehen vor dem Amtsgebäude viele Bauernwagen. Der Bürgermeister verteilt uns Flüchtlinge auf die Bauern. Ein älterer Bauer hilft uns, den Koffer auf das Fuhrwerk zu stellen. Es ist Herr Jürgens. Bei ihm sollen wir wohnen. Wie lange wohl?

Nach kurzer Fahrt erreichen wir seinen Hof. Nach der Begrüßung zeigt man uns die Zimmer. Es sind zwei kleine Räume, in denen alte Möbeln stehen. Sofort beginnen wir, den Schmutz der vergangenen Wochen gründlich abzuwaschen. Dann legen wir uns in die Federbetten - das erste mal seit vielen Wochen.

Während wir noch wach liegen, wandern unsere Gedanken zurück in die Heimat, Schreckensszenen tauchen vor uns auf und erinnern an Stunden, die wir nie vergessen werden. Wo mochte jetzt unser Vati sein.

Dann wird uns plötzlich klar, dass wir trotz aller Schrecken und Strapazen dem lieben Gott zu danken haben. Er hat seine Hand schützend über uns gehalten und uns sicher in die neue Heimat geleitet.

Und mit dem glücklichen Gefühl der Geborgenheit und dem befreienden Seufzer: "Geschafft!" schlafen wir ein. - Der Körper holt den versäumten Schlaf ausgiebig nach.

Nach zehn langen Jahren hat sich nicht viel an unserem  Schicksal geändert

Es ist Sommer 1955. Zehn Jahre sind inzwischen vergangen; zehn Jahre der Arbeit und der Sorge. Vieles ist seit der Flucht aus Ostpreußen geschehen, doch noch immer leben wir in Schleswig-Holstein. Nur schwer konnten wir uns damals in der neuen Heimat einleben; denn der Gedanke an die alte Heimat blieb.

Im Jahre 1946 kehrte mein Vater aus englischer Gefangenschaft zurück. Er war glücklich, uns alle unversehrt wiederzusehen. Wir waren den Klauen der Russen entgangen.

Seit vielen Jahren warten wir sehnsüchtig auf die Rückkehr nach Ostpreußen. "Wann wird der Tag kommen, an dem wir in die Heimat zurückkehren dürfen?", das ist die bange Frage, die immer wieder gestellt wird. Niemand kann diese Frage beantworten; denn eine unüberwindbare Mauer brutaler Gewalt macht uns die Heimat unerreichbar. Können wir auch nicht so bald nach dort zurück, so bleibt im Herzen doch der innige und beständige Wunsch, zurück in die Heimat zu ziehen, zurück nach Ostpreußen!